Zur Zeit wird gefiltert nach: Kreisverband Segeberg

15. Februar 2014

Wenn gewollte "Willkommenskultur" auf bestehende Gesetze trifft...

Quelle: Flüchtlingsrat

Am 13. Februar kamen nachmittags 300 Bürger_innen, vor allem aus der näheren Umgebung des Wohnorts der von Abschiebung bedrohten Familie Hakopjan, vor die Segeberger Kreisverwaltung, um für das dauernde Bleiberecht der Familie zu demonstrieren. Sie sind empört über das das als restriktiv und rechtlich unnötig empfundene Vorgehen der Segeberger Behörde. In einer Nacht und Nebel Aktion vor zwei Wochen sollten die Hakopjans aus Nahe nach Armenien abgeschoben werden.

Ein Anwalt konnte die Ausweisung der Familie, die mittlerweile schon 13 Jahre in Deutschland lebt, noch knapp verhindern. Mittlerweile weitet sich der Protest gegen diesesn Vorgang kreisweit aus: In einer Online-Petition haben mittlerweile fast 9.000 Menschen - davon allein 3.000 aus dem Kreis Segeberg – gegen die Abschiebung unterschrieben. Auch die Facebook-Gruppe "Gegen die Abschiebung von Familie Hakopjan" hat derzeit rund 1.200 Follower.
Der Gemeindebeirat Nahe, Schulen, Sportvereine, die Kirchengemeinde Nahe, der Landeszuwanderungsbeauftragte, die Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche und der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein haben scharfe Kritik geäußert.

Bei der Kundgebung vor dem Kreishaus stellte sich Landrätin Hartwig – Dienstvorgesetzte der Ausländerbehörde – der Diskussion mit den DemonstrantInnen und mühte sich, die "aufenthaltsbeendenden Maßnahmen" mit der zugrundeliegenden Rechtslage zu rechtfertigen. In der inzwischen auch im Internet veröffentlichte Stellungnahme der Kreisverwaltung heißt es u.a.:
"Sowohl vom Oberverwaltungsgericht Schleswig als auch vom Bundesverwaltungsgericht Leipzig wurde im Jahr 2011 abschließend und rechtskräftig die Ausreiseverpflichtung der Familie bestätigt. Humanitäre Anspruchsgrundlagen wurden nicht festgestellt. ... Auch weitere eigene Rechtsverfahren der jüngeren Kinder sowie Verfahren zur Gewährung einer Arbeitserlaubnis versagte das Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht Schleswig. "

Tatsächlich wurde dem Vater, der bis vor vier Jahren als Koch in Itzstedt berufstätig war, die Arbeitserlaubnis entzogen. Der Eigentümer der Gastronomie würde den Vater sehr gern wieder als Koch einstellen. Aber solche Hinweise reichen nicht für den Abbruch des einmal eingeleiteten Abschiebeverfahrens:  "Die armenischen Heimatbehörden stimmten auf der Grundlage der zwischenzeitlich erlangten behördlichen Erkenntnisse der Rückübernahme und stellten Abschiebungspapiere aus, die bis Anfang Februar 2014 befristet waren."

Aber was bedeutet eine Abschiebung nach Armenien? Das Bundesaußenministerium stellt zur Lage des Landes im Oktober 2013 fest: "Das verheerende Erdbeben von 1988, die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach (1988-1994), der Zusammenbruch des sowjetischen Wirtschaftssystems und die Unterbrechung der Energieversorgung in den 1990er Jahren führten zu einem drastischen Niedergang der armenischen Industriestruktur. Dies und die andauernde Isolation durch geschlossene Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei belasten die armenische Wirtschaft bis heute. (...) Von der weltweiten Wirtschaftskrise war Armenien wegen der gesunkenen Weltmarktpreise für die Hauptexportgüter Kupfer und Molybdän betroffen; die wieder steigenden Weltmarktpreise haben ab 2011 zur weiteren wirtschaftlichen Erholung Armeniens beigetragen. (...) Die Arbeitslosenquote lag 2012 offiziell unverändert bei 7%. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit ist jedoch erheblich höher."

Die buchstabengenaue Anwendung des Rechts
läßt es in der Verwaltungslogik offenbar nicht zu, darüber nachzudenken, welche Perspektiven jenen Menschen bleiben die in solche Krisenregionen abgeschoben werden. Die Segeberger Verwaltungsieht sich auf der Seite des Rechts:
" Das Verwaltungsgericht Schleswig hat in seinem Eilrechtsbeschluss vom 31.01.2014 nicht die Rechtswidrigkeit der Abschiebung, sondern lediglich ein formelles Versäumnis festgestellt. Dieses ist kurzfristig nachzuholen. Es führte allerdings zum Abbruch der Maßnahme. "

Im Verlauf der Erklärung der Verwaltung wird die Familie vom Opfer zum eigentlichen Verursacher der versuchten Abschiebeaktion: " Bis zur Maßnahme wurden durch die Familie und den Rechtbevollmächtigten ein Einlenken und eine freiwillige Erfüllung kategorisch ausgeschlossen. Das weitere Vorgehen war insoweit durch das Verhalten bestimmt worden. Die unangekündigte Abschiebung war vor einer Inhaftierung beider Eltern bis zur Abschiebung als milderes Mittel zu bewerten. "

Die Anwendung dieses "milderen Mittels" hat in der Bevölkerung eben zu diesen massiven Protesten geführt. Der Flüchtlingsrat erklärt: "Am 31. Januar stand der – nach Aussage anwesender Nachbarn sich bei der ganzen Aktion rüde gebährende – Vertreter der Ausländerbehörde Segeberg, sekundiert von einem Arzt, einem Vertreter des Landesamtes für Ausländerangelegenheiten und 13 Polizisten zu sehrfrühmorgendlicher Zeit vor der Wohnungstür der Familie Hakopjan in Nahe. Dem Verlauten der empörten Nachbarn nach wurden die Kinder aus den Betten gerissen, Frau Hakopjan eine Tablette verabreicht, die sie völlig aus dem Tritt brachte, Herr Hakopjan in Handschellen gelegt und die ganze Familie nach Hamburg zur Abschiebung auf den Flughafen verfrachtet."
 
Ganz anders dagegen die Darstellung durch die Kreisverwaltung: "Die Familie öffnete jedoch und ließ die Beteiligten (Zwei zivile Vollzugskräfte des Landesamtes Neumünster zur Begleitung, ein behördlich bestellter und in Ausreiseangelegenheiten versierter Arzt, zwei männliche und zwei weibliche Polizisten und ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde) in die Wohnung. Nach dem Setzen im Essbereich wurden der Grund der frühen Vorsprache und die beabsichtigte Ausreisemaßnahme erörtert. Der Familie wurde Gelegenheit gegeben sich telefonisch an Vertrauenspersonen, Anwalt und Schule zu wenden und die persönlichen Gegenstände/Kleidung zu packen.  (...) Eine bedrohliche oder unangemessene Situation ist trotz der Anwendung von unmittelbarem Zwang durch die Polizei gegen Herrn S. zu keinem Zeitpunkt entstanden. Dies ist der guten Vorbereitung und Besonnenheit aller Beteiligten und der maßvollen aber notwendigen Einsatzkräftebemessung geschuldet."

Überzeugend ist diese Darstellung nicht, deshalb ist der Landesbeauftragter für Flüchtlingsfragen, laut einem TV-Bericht des SH-Magazins "am Überlegen, ob wir da nicht eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die zuständigen Beamten machen werden."  Der Familie Hakopjan und ihre UnterstützerInnen bleibt noch die Hoffnung auf die Entscheidung der schleswig-holsteinischen Härtefallkommission, die am 8. April zu dem inzwischen vom Anwalt der Familie eingereichten Ersuchen auf Bleiberecht tagen wird.

In einem Punkt ist der Verwaltung allerdings zuzustimmen: "Eine andere Praxis im Umgang mit asylsuchenden Menschen, die aus den verschiedensten Gründen sehr lange bei uns leben, ließe sich nur auf der Basis eines neuen Bundesgesetzes zur Ein- und Zuwanderung finden. Die gesellschaftlichen Realitäten haben sich sehr verändert, denen kann nur ein neues Einwanderungsgesetz Rechnung tragen.  Nur neue Gesetze könnten den Gerichten sowie allen anderen Verwaltungsbehörden überhaupt gesellschaftlich gewollte Handlungsspielräume ermöglichen. "

In der Praxis bedeutet dies, das die politischen Parteien der Großen Koalition, also CDU und SPD, in ihren Gliederungen Mehrheiten schaffen müssen für eine Änderung des Zuwanderungsgesetzes. Die Entwicklung der Flüchtlingspolitik der zunehmenden Abschottung Europas unter Inkaufnahme weiter Opfer an den europäischen Außengrenzen, die erst jüngst auf dem europäischen Gipfeltreffen beschlosen wurden, verheißen in dieser Hinsicht nichts Gutes.

Die Menschen vor Ort werden also weiterhin - hoffentlich erfolgreich - wachsam sein müssen.

Björn Radke